Graustufen – Route du soleil III

Durch ein Fenster betrachtet, käme man nicht auf die Idee, dieses Wetter schön zu finden. Es ist kalt, und es fällt ein feiner Nieselregen, der unter alles kriecht, was sich im böigen Wind aufbauscht.

Leicht frustriert steige ich am Bahnhof in Grupont aus, verhülle meinen Rucksack und mich regenfest, starte das Navi auf meiner Garminuhr und warte ohne jegliche Euphorie auf das Signal loslaufen zu können.

Aufgewärmt

Ich muss die Gleise queren, was dank des instand gesetzten Tunnels auch mit Hund und Rucksack kein Problem ist. Hinter dem Bahnhof geht es sofort in den Wald und auf einem schmalen Pfad steil aufwärts. Nach wenigen Schritten, die noch etwas strauchelig ausfallen, beschleunigt der Puls, mir wird warm und meine Hände melden durch Kribbeln die Zufuhr aufgewärmten Blutes. Schon nach kurzer Zeit begibt sich der Weg in die Horizontale, um sich anschließend abwärts zu neigen. Dank dieser ersten Geländeamplitude sind meine Hände warm, der Kreislauf stabil. Kapuze, Jacke, Regenhose und Rucksackhülle müssen der wiederentdeckten Freude am Wandern weichen.

Der Wald dämpft den Wind, das Geniesele hat sich zu vereinzeltem Getröpfel zurückentwickelt. Nachdem der Rucksack wieder aufgeschnallt und Balou von der Leine gelassen ist, sieht die Welt sofort ganz anders aus. Ein Stück den Hang hinunter brodelt die Lomme gut gefüllt unter hängenden Zweigen und über moosige Felsen talwärts. Die Luft ist gereinigt, mit Sauerstoff reich gesättigt, und die den Frühling erwartenden Bäume pumpen Wasser in die entlegensten Verästelungen ihrer Zweige, stelle ich mir vor. 

Gewässert

Die Strecke zwischen Grupont und Transinne ist auf dem ersten Drittel spektakulär von der Lomme und ihren Zuflüsschen und Parallelbächen geprägt. Es strömt und fließt und sprudelt und brodelt. 

Im kleinen Bergörtchen Mirwart entwickelt das von Nebelfetzen weichgezeichnete Brichpot‘es enorme Anziehungskräfte. Das trocknende und wärmende Kaminfeuer kann ich fünfzig Meter von der Straße aus förmlich riechen und fühlen. Leider passt eine Einkehr nicht in meinen Zeitplan, und so ziehe ich weiter und befreie mit jedem Schritt das Chateau de Mirwart aus dem Nebelgrau. Stünden auf dem gekiesten Parkplatz keine Autos herum, ließe es sich ohne weiteres als Kulisse für ein tragisches Finale in einem Historiendrama nutzen.

Auf der zweiten Hälfte des Abschnitts Richtung Transinne geht es dann durch in die Jahre gekommene Fichtenspaliere, deren Untergrund so geheimnisvoll dunkelgrün und einladend weich bemoost ist, dass es die Tristesse der Monokultur nahezu überdeckt. Das Euro Space Center macht im Wald durch edelrostige Sternbilder auf sich aufmerksam, während ausgedehnte Narzissenfelder im lichten Unterholz mit gelbem Leuchten die Graustufen von Wolken, Wasser und Stämmen untermalen.

Endspurt

Ein grüner Schiefer liegt wie ein übergroßer Edelstein mitten auf dem Weg. Ein Reiher und ein Schwan verharren seelenruhig am und auf einem Karpfen- oder Forellenteich. Erst beim Näherkommen enttarne ich sie als künstlich. Anschließend zieht sich die Etappe durch die von Christbaumplantagen geprägte Wald- und Wiesenlandschaft bis Transinne. Der Weihnachtsmann muss Belgier sein, denke ich durch den wieder zunehmenden Nieselregenschleier hindurch. 

Kurz nach dem Osterfest lasse ich ich mich von weihnachtlichen Gedanken ablenken und vom Nieselregen durchfeuchten und herunterkühlen, weil ich mir einrede, dass es jetzt auf dem Endspurt der Strecke auch nicht mehr lohnt, die Regenkleidung wieder anzuziehen. Wann beginnt beim Wandern der Endspurt? Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort. Als Faustregel gilt für mich, der Endspurt sind die letzten drei Kilometer. Es spielt keine Rolle, wie lang die Etappe war: die letzten drei Kilometer sind immer die härtesten. 

Aus meinen vorweihnachtlichen Endspurtgedanken holt mich das Monument auf dem zentralen Kreisverkehr im kleinen Örtchen Transinne. Geschütze, die ihre Mündungsrohre auf mich richten, erinnern mich an zwei sehr unrühmliche Kapitel deutscher Geschichte.

Gepfuscht

Übrigens habe ich bei meiner dritten großen Strecke Richtung Südfrankreich gepfuscht. Ich schlafe nämlich nicht im Zelt und habe nur für drei Etappen Zwischenquartiere gebucht. Für die übrigen Abschnitte komme ich in den Genuss eines privaten Transferservices, der mich von Sedan aus an die Ausgangsstellen meiner Etappen bringt und von den Endpunkten abholt. Daran könnte ich mich gewöhnen.

Der zweite Tag beginnt nebelverhangen und grau. Das ändert sich zum Glück rasch. Kurz nach dem Start am Place du Monument lichtet sich der Nebel und vom Boden aus machen sich grün-, braun-, gelb- und ockerfarbige Töne an die Arbeit, den Nebelvorhang von unten nach oben zu verschieben, bis ein strahlendes Blau sichtbar wird. Und dann bin ich auch schon am Waldrand. Betreten lässt sich der Wald, nachdem ein großes Wildgatter beiseitegeschoben ist.

Dahinter verbirgt sich eine abwechslungsreiche, einsame, hügelige Strecke, die sich schlängelnd durch licht- und dicht-waldiges Gelände windet, unverhofft kleine Sichtfenster bietet und kurz vor Our aus dem Wald herausführt, sich zwischen Rinder-Weiden und Äckern fortsetzt, um dann über ein letztes Stück Straße steil nach Our abzufallen, einem der schönsten Orte der Wallonie, wie ein Schild am Ortseingang verkündet.

Aufgehellt

Sonnenschein auch am nächsten Tag. Und das ist auch gut so, denn zusätzliche Motivation ist an diesem Tag willkommen. Von Our nach Mogimont sind es gut 23 Kilometer, der längste Abschnitt dieser sieben Tage und das mit schwererem Rucksack. Denn jetzt habe ich zwei Übernachtungen an der Route gebucht, ohne den Luxus eines Gepäck- und Transferservices.

Kaum im Wald, spukt plötzlich ein absurder Gedanke durch meinen Kopf. Hatte ich nicht am Vortag und auch am ersten Tag Viehweiden entdeckt, die mit einem mir bis dahin unbekannten Muster umzäunt waren. Jeder dritte Pfahl überragte die dazwischenliegenden Pfähle um die gleiche Länge. Warum mir jetzt spontan die Lösung für dieses Zaunrätsel in den Sinn kommt, ist mir nicht klar, jedenfalls bin ich mir sicher: das waren Wolf-Schutzzäune. 

Gefährdet

Nein, natürlich ist der Ardennen-Wolf menschenscheu, friedlich und tief in seinem Revier abseits der Wege mit Sinnvollerem beschäftigt, als Wandernde zu zerfleischen, meldet sich die Vernunft zu Wort. Während mein Griff um die Wanderstöcke zupackender wird, regt sich der Zweifel und fragt, wann mir in diesem dichten Waldgebiet bitteschön der letzte Mensch begegnet ist. Ich brauche nicht lange nachzudenken, um mich zu erinnern: nachdem Our passé war, waren es auch die Menschen. Erst als ich oberhalb von Naomé aus dem Wald heraustrete, kann ich diese Gedanken abschütteln.

Auf den letzten Kilometern frischt der Wind auf und der Himmel zieht sich zu. Wandernd den Blick in die Weite schweifen zu lassen ist eine gute Ablenkung von der Mühsal des nächsten Schrittes. Ich registriere einen dicht bewölkten Himmel, der sich in allen denkbaren Grautönen zeigt. Gedeckt, schlicht, bescheiden, elegant – Worte mit denen Grautöne in der Garderobe, an Fahrzeugen, Bodenbelägen oder Möbeln gerne beschrieben werden.

Ein wolkiger Himmel über einer tief gestaffelten Landschaft ist dagegen ein Feuerwerk an Nuancen und Schattierungen. Zum Rand hin lichtdurchlässiger mit einer Ahnung von gelb und orange, zur Mitte sich zu einem dunkel-drohenden Anthrazit-Schwarz verdichtend und in verwirbelten oder überlappenden Regionen je nach Lichteinfallwinkel mit einem Hauch von Blau bis zu einem schüchternen Violett überzogen. An der frischen Luft und in Bewegung hat ein wolkig grauer Himmel nichts Bedrückendes, nichts Depressives, sondern eine besänftigende Struktur.

Gastfreundschaft

Schließlich stehe ich am Gartenzaun eines langgestreckten Natursteinhauses. Ich betätige den Klingelknopf und werde von einer jüngeren Dame hereingebeten und rechts um die Ecke in ein kleines Büro geführt. Am Schreibtisch sitzt ein rundlicher Herr, der mich freundlich begrüßt. Ich verstehe kein Wort, interpretiere sein Lächeln als Willkommensgeste. Ich nenne meinen Namen, und er führt mich nach draußen, über eine hölzerne Außentreppe ins Obergeschoss. Hinter einer Glastüre gibt es ein Schlafzimmer. Prima, denke ich, aber dann winkt mich dieser rundlich-weiche, blasse Herr durch eine weitere Türe in ein geräumiges Ess-Wohnzimmer mit angeschlossener Küche. Weiter geht es in ein Bad und durch eine nächste Türe in einen Flur zu einer Toilette. Nachdem ich begreife, kein Zimmer sondern ein ganzes Gîte gemietet zu haben, wird mir ein wenig flau. Der freundliche Herr redet ohne Punkt und Komma. Ich sorge mich derweil um meine Finanzen, verstehe nichts und sage nur noch oui. Oui, oui. 

Schließlich lässt er mich allein, ich richte mich ein, drehe die Heizungen hoch und will mich auf der Couch ausruhen, als Balou aufspringt und laut bellend ins Schlafzimmer läuft. Ich folge ihm, und vor der Türe steht mein Vermieter mit einem Tablett in den Händen, darauf eine Schüssel Suppe und Toastbrot.

Entlastung

Ich bedanke mich überschwänglich, esse etwas skeptisch von der Suppe und dem Brot. Gesättigt wasche ich ab und will mich wieder hinsetzen, als Balou erneut aufspringt. Ein zweites Mal steht der Herr mit einem Tablett vor der Türe. Der zweite Gang. Ein großer Teller voll undefinierbaren Kartoffelbreis, daneben bleiches Rotkohlgemüse und fettige Würste, garniert mit zahlreichen Speckstreifen. Ich bedanke mich erneut, stelle alles auf die stark gemusterte Tischdecke und picke skeptisch in dem Essen herum. Das kann ich nicht essen. So etwas bringe ich nicht hinunter. Jetzt habe ich ein Problem. Ich will nicht undankbar sein. Ich kann das Essen nicht in den Müll schütten, ohne mir das enttäuscht traurige Gesicht meines Vermieters vorzustellen. Ich fülle drei Hundekotbeutel und stopfe sie in meinen Notfall-Kochtopf, den ich außen am Rucksack befestige. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, bei dem ich die obere Scheibe Käse wegen zahlreicher Fingerabdrücke verschmähe, trete ich erneut vor den Schreibtisch und rechne mit dem Schlimmsten. Aber es bleibt bei dem angekündigten Preis. 

Er hatte mir wohl von seinem eigenen Essen abgegeben und war anscheinend froh, einen Gast zu beherbergen. Mein Gewissen und das zusätzliche Gewicht am Rucksack ringen miteinander um meine Aufmerksamkeit. Nach der ersten Mülltonne an einer Bushaltestelle entscheidet das Gewissen diesen Kampf für sich.

Das Wetter bleibt stabil und der Weg Richtung Poupehan abwechslungsreich. Vor Bouillon geht es steil bergauf, es ist beschwerlich, mein T-Shirt klebt am Rücken und der Wind weht kühl. Der Himmel hat sich zugezogen. Ich blicke auf Bouillon herab. Ein schönes Städtchen, das sich eng in die Schleife der Semois schmiegt. 

Licht und Schatten

Beim steilen Abstieg kommt mir eine leidende Grundschulklasse entgegen. Das begleitende pädagogische Personal leidet ebenfalls. Weniger wegen des Anstiegs. Eine Horde mehr oder weniger motivierter und talentierter Kinder den steilen Berg hochzubringen, scheint an Kräften und Nerven zu zehren. Balou gelingt es, in die Gesichter einiger konditionsstarker Kinder ein Lächeln zu zaubern. 

Durch den schönen Ort gehe ich ohne Rast, auch an der Burg mache ich nicht die überfällige Pause. Zu kalt zum Innehalten und zu viele Menschen, um das schweißnasse
T-Shirt gegen ein trockenes zu tauschen. Im Vorübergehen genieße ich die Aussicht und stolpere anschließend auf grobpflastrigem Untergrund an der Semois entlang. Erst als der Weg auf erdigem Boden weitergeht, nehme ich die Schönheit der Flusslandschaft wahr. Links des Flusses Buchenwald, deren Blätter hier bereits aus den Knospen drängen, rechts eine sanft ansteigende Kuhweide und dazwischen die stark strömende Semois. Endlich komme ich an einen felsigen Platz für eine kurze Rast, hänge meine nassen Shirts ins Geäst und genieße im trockenen T-Shirt die Landschaft.

Der GR 14 folgt dem Lauf der Semois, passiert die Hängeseilbrücke bei Moulin de L‘Epine und führt dann schweißtreibend bergauf. Der abrupte Anstieg wird belohnt mit einer außergewöhnlichen Aussicht auf eine Schleife der Semois und in das waldige Flusstal, in dem die Wolkenschatten mit dem Licht tanzen. Dann beginnt der Endspurt, der über Corbion bis Poupehan bergab führt.

Unerwartet

Die Auberge Le Vieux Moulin sieht geschlossen aus. Ich schaue sie mir von allen Seiten an, finde aber keine Stelle, an der sie sich betreten lässt. Dann sehe ich den Zettel in der Tür mit einer Handynummer von Anita. Viel zu erschöpft, um über meine wenigen Französisch-Kenntnisse ins Grübeln zu kommen, rufe ich an, und Anita fährt nach einer Viertelstunde Wartezeit vor. Sie hat ein kleines Zimmer nach hinten raus vorbereitet und mir einen Tisch in dem hundert Meter entfernten Restaurant des Campingplatzes direkt an der Semois reserviert. Im Hotel bin ich der einzige Gast. Das setzt sich im Restaurant des Campingplatzes fort. Der Koch erwartet mich rauchend am Geländer der Holzterrasse. Meine Erwartungen sind niedrig. Ich bestelle einen Burger und ein Bier. Nach längerem Warten serviert mir der Koch einen sorgfältig zubereiteten und nett angerichteten Hamburger, der sehr gut schmeckt. Zufrieden laufe ich nach dem Essen mit Balou durch das verschlafene Örtchen.

Beim Frühstück bin ich im großen Frühstücksraum der einzige Gast. Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller. Zum Glück ist da nur Anita, die sich die Präsentation anschauen könnte, aber sie konzentriert sich hinter einem Pfeiler auf ihr Handy. Nachdem ich ein ordentliches Frühstück verzehrt habe, zahle ich und mache mich an den Anstieg bis Corbion. Es ist kalt, ziemlich kalt. Der Himmel ist grau und nach ein paar Minuten lässt er ein weißes Geflöckel auf mich herabrieseln. Es schneit. Ich laufe weiter. Gerade erst habe ich den Rucksack aufgesetzt, da will ich ihn nicht gleich wieder absetzen, um die Regensachen herauszuholen. Es sind ja auch nur einzelne Flöckchen. Am Ende des Hohlwegs, den ich durch dichten Wald heraufkraxele, sehe ich ein helleres Grau am Himmel. Das weist auf schönes Wetter hin, sage ich mir und laufe weiter. Und tatsächlich wird es heller und die Sonne lugt immer wieder durch kleinere Wolkenlücken.

Grenzerfahrung

Auf eine Grenzmarkierung wartend, ziehe ich bei weiter aufklarendem Himmel dahin. Erst als der Wald sich lichtet und sich Äcker mit Mischwaldparzellen abwechseln, spüre ich eine Veränderung und weiß mich in Frankreich. 

Im Nachhinein stellte ich fest, die Grenze bereits nach 2,7 Kilometern überschritten zu haben. Leider war von ihr nichts zu sehen. Gerne hätte ich den Moment genossen, schließlich ist Frankreich das Zielland meiner Wanderung. 

Es ist ungerecht gegenüber Belgien. Immerhin habe ich in diesem Land viele wunderschöne Eindrücke bekommen und es zu Fuß durchquert. Und sehr wahrscheinlich liegt es an meiner verklärten Wahrnehmung, aber seit ich in Frankreich bin, fühle ich mich beschwingt, der Weg verläuft virtuos und über allem weht ein Hauch Nonchalance.

Es dauert nicht lange, dann kommt Sedan in Sicht. Der wunderschönen aber leider in weiten Teilen leerstehenden Altstadt nähere ich mich von oben über das Chateau Fort. Eine Hinweistafel zur Geschichte der Festung legt sich mir aufs Gemüt. Einem Deutschen Despoten, seinen Gefolgsleuten, Unterstützern und seinen Millionen Pflicht-Erfüllern sind allein hier tausende Menschen zum Opfer gefallen. Ermordet. Einfach so. Mitten aus dem Leben. Ich schäme mich. 

Alte Zeiten

In Sedan habe ich am Place d‘Armes 11 eine Ferienwohnung gemietet. Die freundliche Vermieterin schließt auf, und ich stehe in einem Flur und Treppenhaus, die mir den Atem verschlagen. Alles ist alt, renovierungsbedürftig, unsauber, das Treppengeländer beschädigt und aus dem nach oben offenen Atrium strömt mir kalte Luft entgegen. Dann betreten wir eine Wohnung, die sehr schön aufgeteilt ist, aus den alten Sprossenfenstern einen Blick auf den Platz und die Kirche bietet, stilvoll eingerichtet und gekonnt dekoriert ist. Ein Ort zum Wohlfühlen.

Am Abend gönne ich mir den Luxus eines Restaurantbesuchs. Aus einem unerfindlichen Grund lande ich im „Au Bon Vieux Temps“. Offenbar eine Institution in Sedan. Kaum bin ich durch die Türe getreten, empfängt mich die Aura längst vergangen Glamours. Wie ein zum Schneiden eingedickter Nebel liegen die Gerüche von Jahrzehnten auf den wenigen Sauerstoffmolekülen in der Atemluft. Ein Schreibtisch steht im Weg und dahinter der Kellner, Koch und Inhaber, der mit eingeübt galanter Geste um die Jacke bittet und dann zum Tisch geleitet. Die Tische sind mit transparenten abwaschbaren Tischdecken bedeckt. Echtes Silber liegt neben den Tellern, die Bilder an den Wänden verbinden sich mit einem unechten Aquarium und einer eigenartig gesichtslosen Einrichtung zu einem fast bedrückenden Ambiente. Die freundliche Kellnerin und Partnerin des Kochs ist bemüht, mein Kabeljau ist es auch, aber es hilft ihm nicht: in der Konkurrenz zur Sauce unterliegt er. Die gute alte Zeit scheint längst passé. Man muss kein Prophet sein, um die Zukunft des Restaurants vorherzusehen. 

Rückblick

Die Etappe nach Chémery sur Bar beginnt an der Haustüre und führt nach der Pont de Meuse einige hundert Meter am Ufer der Meuse entlang. Nachdem der Weg sich stadtauswärts behauptet hat, ich einen Bauernhof mit freilaufendem Hund auf der abgewandten Seite eines großen Muldenkippers passiert habe, bleibe ich auf dem Feldweg kurz stehen, esse einen Apfel und blicke auf Sedan zurück. Der Weg steigt weiter an, und ich drehe mich öfter rückblickend auf Sedan um. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, der Weg leicht geschwungen, der Löwenzahn blüht, der Weißdorn ebenso und die Feldlerche trällert.

Es ist wunderschön, und ich habe richtig gute Laune. In dem verschlafenen Dörfchen Chaumont werde ich von einer freundlichen Dame angesprochen, die wissen möchte, woher ich komme und wohin ich gehe. Kurz vor mir sei ein Holländer mit einem Pferd ebenfalls auf dem GR 14 vorbeigekommen, meine ich zu verstehen. Vielleicht hole ich ihn ja noch ein. Ortsauswärts gelange ich an einen idyllischen Kuhstall, der von einem kleinen Bach fröhlich sprudelnd unterspült wird. Während ich das klare Wasser im saftigen Gras bewundere, werde ich schon von einem Bauern angesprochen, der mit der Kuhtränke beschäftigt ist. Auch er stellt viele Fragen und obwohl ich schon mit einem Bein Richtung Strecke scharre, macht er freundlich und seelenruhig weiter Konversation. Mir wird immer wärmer, denn mit meinen Französischbrocken ist das nicht nur für ihn eine Zumutung. 

Südwärts

Die Landschaft zeigt sich exakt so, wie ich es mir von meinen vielen Fahrten über die Autobahn Richtung Süden erhofft hatte: sanft gewellt mit kirchturmbespitzten Hügeln umgeben von kleinen Örtchen, Bauernhöfen und Kuhherden, ein Schachbrett aus Wäldchen, Wiesen und Äckern, durchzogen von Bächen und Wegen. Schließlich gelange ich nach Bulson. Ein Dorf wie frisch aus dem Ei gepellt. Rund um die Kirche bilden die Wohnhäuser einen fast geschlossenen Kreis und befinden sich in einem stilvoll sanierten Zustand. Bis zum Etappenziel Chemery sur Bar bleiben Landschaft, Weg und Wetter attraktiv.

Oches, den Endpunkt der siebten Etappe, kannte in Sedan weder meine Vermietern noch andere Menschen, die mich nach dem Ziel befragten. Ein Hügel, eine Kirche, einige Häuser, Bauernhöfe und Kühe. Gleichförmig in seiner Schönheit und doch zu klein, um in der übernächsten Stadt bekannt zu sein. Außer mir ist niemand auf dem Weg dorthin. Was nicht ganz stimmt. Denn kurz hinter La-Neuville-à-Maire sehe ich auf dem graden Feldweg in der Ferne vor mir einen weißen Punkt. Obwohl ich auf der ziemlich ebenen Strecke zwischen kleinen Entwässerungsgräben, Weißdornhecken, sonstigem Gebüsch und Zäunen gut vorankomme, kommt der Punkt nicht in Reichweite.

Schließlich verliere ich ihn aus den Augen. Nach einer scharfen Biegung des Weges löst sich das Rätsel des weißen Punktes. Auf einer Wiese neben dem Wassergraben grast ein bepackter Schimmel mit einer jungen Frau am anderen Ende des Führstricks. Das muss der Holländer sein, denke ich mir. Sie macht durch Mimik und Körpersprache deutlich, gleich viel Interesse an Kontakt und Unterhaltung zu haben wie ich und so bleibt es bei einem freundlichen bonjour, ich ziehe weiter und tauche in ein fast magisches Bruchgebiet mit schwarz spiegelnden Wasseroberflächen, tausenden Vogelstimmen und durstigen Stechmücken ein.

Am Landgut Chartreuse du Mont-Dieu setzt Regen ein, der mir bis Oches erhalten bleibt. Es trieft und sprießt. Die Natur ist üppig und streckt inzwischen alles, was zur Photosynthese fähig ist, ins Licht. Nach sieben Tagen und den kühlen Ardennen entkommen, befinde ich mich im Bilderbuchfrühling. Auf dem Rücken weit geschwungener Getreidefelder gehe ich die letzten Kilometer unter dem tiefen Grau des Himmels zwischen dem dunklen Grün von Gerste und Hafer im inzwischen zum Landregen ausgeweiteten Nass Richtung Oches, während sich unter meinen Wanderschuhen eine dicke Schicht des lehmigen Bodens sammelt und ich sprichwörtlich über mich hinauswachse.

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