Das Ziel der letzten Etappe ist immer auch der Start der ersten Etappe des nächsten Abschnitts. So verhält sich das auch mit Oches. Deshalb war ich nun zum zweiten Mal in meinem Leben in diesem kleinen Pünktchen auf der Landkarte. Die meisten anderen Menschen werden diese Erfahrung niemals machen. Wenn es hoch kommt, bleibt Oches für sie die kleine Markierung, oder sie erfahren nicht einmal etwas von der Existenz dieses Örtchens.
Oches
Ich bin nun jedenfalls um zwei Erfahrungen reicher, die der überwältigenden Mehrheit der mit mir zu gleichen Zeit vorkommenden Menschen entgehen. Vielleicht muss man diese Erfahrungen auch nicht machen. Aber das gilt wahrscheinlich für viele machbare Erfahrungen. Vielleicht sind sie für die eigene Biografie nicht nötig oder sogar hinderlich oder einfach nur belanglos.
Für mich gilt das natürlich nicht. Denn so wie ich durchnässt und erschöpft und mit schleppenden Schritten bei meiner Ankunft von den Ocher Kühen skeptisch-neugierig ausgemuht wurde, blieb mir Oches während der anderthalb Jahre bis zur Fortsetzung der Wanderung in Erinnerung. Aber das war keine triste Erinnerung. Denn durch die Regenschleier und das schmatzende Geräusch meiner Wanderschuhe auf dem lehmigen Boden manövrierte sich immer die Ocher Kirche in den Vordergrund meines inneren Auges, wie sie freundlich-trotzig auf ihrem kleinen Hügel beschützend über allem thront.
Mit diesem Bild vor Augen hätte ich bei meiner zweiten Ankunft in Oches fast die Sonne übersehen, die an einem locker bewölkten Himmel für annähernd 20 Grad sorgt und gemeinsam mit einer leicht böigen Brise aus südlicher Richtung perfektes Wanderwetter schafft.
GR 14
Der Hinweis auf den GR 14 ist schnell gefunden und schon führt ein nach oben strebender Feldweg aus Oches hinaus. Ich lasse Balou von der Leine, blicke immer mal wieder zurück auf die kleiner werdende Kirche und freue mich über den Greifvogel, der im Gleitflug ein Auge auf uns geworfen hat.
Auf der Hügelkuppe stemmt sich ein kleines Wäldchen gegen den Wind und markiert den Anfang eines Feldwegs, der sich zunächst hügelauf und hügelab schlängelt. Später hinter Fontenois zieht er sich kilometerlang ziemlich gerade durch die Landschaft und gewährt wegen seiner exponierten Kammlage weite Blicke in eine tief gestaffelte wunderschöne Landschaft. So muss Wandern sein, denke ich als mein Handy klingelt und mein Wanderfreund wegen der in ein paar Tagen anstehenden Moselwanderung anruft. Ich berichte ihm euphorisch von meinen frischen Eindrücken.
Bataille de Stonne
In Saint-Pierremont erinnert ein kleines Schild an die Bataille de Stonne. 1940, vor 84 Jahren, überzogen wir Deutschen dieses Land mit Terror und Tod und hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Das ist hier eine lebendige Erinnerung. Ich blicke mich etwas ängstlich um, ob mich von einem der Fenster aus irgendjemand beobachtet und mich als Deutschen identifiziert. Ortsauswärts treffe ich an einer kleinen Schreinerei auf einige Menschen, die sich über den Zaun hinweg unterhalten, ihr Gespräch aber kurz unterbrechen, um mich freundlich zu grüßen.
In Fontenois ist das einzige Lebewesen ein Pyrenänenberghund, der angekettet vor einem schäbigen Hofgebäude wie wild an seiner Kette zerrt, um uns zu vertreiben, wenn er nicht gar Schlimmeres im Schilde führt. Das Fell im Halsbandbereich ist abgescheuert und als Zuflucht vor Sonne und Regen steht ihm ein halb aufgetrenntes Wasser- oder Spritzmittelfass zur Verfügung. Balou und ich gehen schnell weiter.
Nachdem dieser unschöne Eindruck verblasst, nehme ich wieder den angenehmen Weg durch die schöne Landschaft wahr. Ich gehe beschwingt, denn das Gewicht im Rucksack ist passabel, weil mein Zelt bereits aufgebaut auf dem Campingplatz Samaritaine in Buzancy steht, dem Zielort der ersten Etappe. Bis dahin sind es überschaubare elf Kilometer.
Samaritaine
Kurz vor Harricourt stoße ich auf eine größere Straße, wundere mich über ein kopfstehendes Ortsschild, und dann ist es nicht mehr weit bis zum Ziel. Meine Route weicht jetzt vom GR 14 ab, und prompt laufe ich an der Stelle vorbei, an der ich auf den Sentier des Castors abbiegen soll. Ich irre einige Meter herum, bis ich den schmalen Fußpfad entdecke, der in ein sumpfiges Gelände führt, das aber zum Glück einigermaßen begehbar ist. Innerlich schüttle ich einmal mehr den Kopf über die Komoot-Gemeinde, nicht ahnend, dass es noch deutlich schlimmer kommen wird.
Nachdem ich das kleine Biberschutzgebiet durchquert habe, stehe ich bereits am rückwärtigen Zaun des Campingplatzes Samaritaine. Ein insgesamt sehr ordentlich angelegter Platz, der trotz der vielen Mobilhomes eine angenehme naturnahe Atmosphäre ausstrahlt. Ein kleiner Bach fließt über das von vielen Bäumen bestandene Gelände. Mein Zeltplatz liegt am Ende eines Stichwegs, so dass Balou und ich etwas für uns sind. Obwohl die Sonne scheint und ich T-Shirt und Midlayer zum Trocknen aufhängen kann, habe ich den Platz so gewählt, dass es nicht weit zu einem überdachten Schuppen ist, falls ich mein Zelt im Regen abbauen muss.
Abendstimmung
Es gibt eine große Sanitäranlage, einen ebenfalls großen Aufenthaltsraum, eine kleine Rezeption mit einigen Snacks und Getränken, einen schönen Biergarten unter Bäumen und ein freundliches Betreiberehepaar.
Auf meinem Abendspaziergang mit Balou gehe ich am Ufer des Badesees entlang, der mehr oder weniger zum Campingplatz gehört, mit einem schönen Steg ausgestattet ist und trotz der Ahnung des Herbstes, die in der Luft liegt, noch einen Schwimmer zum Kopfsprung in das sauber wirkende Wasser einlädt, in dessen Uferbereich zahlreiche Fische die Wasseroberfläche perforieren.
Insgesamt ein sehr schöner Campingplatz, denke ich, als ich meinen Schlafsack schließe und wieder einmal das besondere Gefühl einer Nacht unter der dünnen Haut einer Zeltplane genieße.
Regenschutz
Der Morgen ist grau und die Ahnung von Regen liegt in der Luft, als ich von meiner kleinen Morgengassirunde mit Balou zurückkomme. Ich verfrachte Balou und nach und nach meine ganzen Utensilien unter den Unterstand, während es leicht zu tröpfeln beginnt. Das Zelt baue ich dann im Regen ab. Ich freue mich über die Möglichkeit, meinen Kaffe im Trockenen zubereiten zu können. Zum Frühstück gibt es einige Löffel Granola; auf dem Campingplatz liegt ansonsten noch alles im Schlaf.
Komoot
Als ich meinen Rucksack aufsetzte, spüre ich das zusätzliche Gewicht, das ich zu Hause mit knapp 23 Kilogramm ermittelt hatte. Durch die Feuchtigkeit in der Ausrüstung sicherlich noch einige hundert Gramm mehr. Einigermaßen erholt schreite ich aber guten Mutes los, um den von Komoot vorgeschlagenen Weg zum Hauptwanderweg GR 14 zu nehmen. Der Weg ist schnell gefunden, während sich ein Nieselregen ausbreitet, der sich mit böigem Wind zusammenschließt, um meine Stimmung etwas zu dämpfen. Das Gras auf dem Feldweg ist hoch und nass, und eine Kuhherde fragt sich offensichtlich, was wir zwei Geschöpfe in ihrem Revier zu suchen haben. Das Gras entlang der Kuhweide wird immer nasser, der Weg immer matschiger, bis ich wieder einmal einsinke und keinen Ausweg erkennen kann. Nach 800 Metern bin ich bereits in einer Sackgasse gelandet.
Überladen
Im Stillen fluchend scrolle ich die Karte und nehme den Weg zurück durch das jetzt sehr sumpfige Bibergebiet, bis ich schließlich einen befestigten Wirtschaftsweg erreiche. Meine zum Glück hohen Wanderstiefel sind mit Schlamm überzogen. Mein linkes Hosenbein hat bis zur Schienbeinmitte ebenfalls einen Schlammüberzug und nach den unnötigen 1,6 Kilometern merke ich das Gewicht meines Rucksacks in dem Maße mehr, wie sich das Adrenalin aus meinem Körper zurückzieht. 23 Kilo plus stehen eben doch in einem krassen Missverhältnis zu 64 Kilo Körpergewicht, wird mir bewusst während ich registriere, dass aus meiner moderaten Streckenplanung mit 15,6 Kilometern nun knapp 17,5 Kilometer bis Grandpré geworden sind.
Begegnungen
Mein neuer Lundhags-Rucksack sitzt zwar perfekt, aber auch er kann das Gewicht nicht von meinem Körper wegleiten. Ich beiße die Zähne zusammen und beschließe, die Landschaft zu genießen, die mich mit dem kleinen Gutshof Malmaison, Vieh-Koppeln, Äckern und Wald unterhält. Die wenigen Menschen, die mir im Auto oder Traktor entgegenkommen, grüßen freundlich. Selbst die mit dem Eintreiben von Jungvieh beschäftigten Bauern nehmen sich Zeit für einen knappen Gruß.
Eine überfahrene Schlange markiert kurz vor Briquenay den Weg und macht mir bewusst, wie sehr mich die Qual des Gewichts herunterzieht und meinem Blick zu Boden ringt. Eine freundliche Dame in Briquenay zeigt sich freundlich begeistert und erwähnt einen tollen Wald mit einem schönen Rastplatz, zu dem der GR 14 mich bald führen werde. Ich verlasse also den Picknickplatz im Ort, pflücke mir über einen Zaun hinweg zwei Äpfel und quäle mich den Anstieg zum Wald hinauf.
Waldenge
Bisher war die Strecke aufgelockert und abwechslungsreich. Nun bin ich wieder im Wald, der meinem Blicken rechts und links des eintönigen Forstwirtschaftsweges klare Grenzen setzt. Ich fühle mich eingeengt, der Rucksack drückt und zerrt und quält, kein Rastplatz ist in Sicht, und der Weg verläuft anders als meine Garmin-Uhr mir anzeigt. Nach vorübergehendem Anstieg der Herzfrequenz finde ich den Weg schließlich wieder und auch einen Baumstamm, um etwas Granola und einen Energieriegel zu essen.
Aufgeben
Erst oberhalb von Grandpré entlässt mich der Wald in die zum Glück wieder scheinende Sonne. Ich lasse meinen Rucksack ins Gras gleiten, versorge Balou mit frischem Wasser und einem Kaninchenohr, ziehe mein völlig durchnässtes T-Shirt aus, das ich zum Trocknen auf meine Wanderstöcke hänge, bevor ich mich mit schmerzenden Gelenken zu meinem Rucksack auf den Boden setze.
Hier kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, meine Wanderung vorzeitig zu beenden. Sieben Etappen hatte ich von Oches bis Pargny-sur-Saulx geplant. Beginnend mit der fünften Etappe dann jeweils deutlich über 20 km. In dieser Form und mit diesem Gewicht ist das nicht zu schaffen, wird mir klar.
Ausstattung
Ich rapple mich auf und schleppe mich die restlichen Kilometer bis Grandpré. Auf den letzten Metern durch den Ort schmerzen die Knie so sehr, dass ich eher wanke als laufe. Schließlich erreiche ich aber Camping Municipal de Grandpré, ein an der Durchgangsstraße gelegenes Areal für Dauercamper in Mobilheimen, von denen sich die meisten wohl schon in den Herbst verabschiedet haben.
Von der benachbarten Sportanlage dringt das aufdringliche Kreischen hochmotorisierter Zweitakter zu mir herüber.
Schließlich entpuppt sich ein Mobilheim an der Wiese neben der Straße im Eingangsbereich als bewohnt. Ich begrüße den Bewohner, der mir sagt, ich könne mein Zelt an einer beliebigen Stelle aufschlagen. Es gibt Toiletten in einem Container, einen Aufenthaltsraum mit Kühlschrank, Tisch, Stühlen, Wasserkocher und Kochplatte und eine altertümliche aber saubere Dusche mit heißem Wasser. Kurzum: der günstige Campingplatz bietet für einen Wanderer auf dem Durchmarsch alles Wünschenswerte, strahlt aber insgesamt eine eher zweckmäßige Atmosphäre aus. Für einen Urlaub oder längeres Verweilen käme er für mich nicht in Betracht. Die eher mürrische Campingplatzverantwortliche kommt geben sieben Uhr vorbei, nimmt mein Geld entgegen, und dann bin ich für den Rest meines Aufenthaltes wieder allein.
Am nächsten Morgen ist der Wert des kleinen Aufenthaltsraumes nicht hoch genug einzuschätzen. Es ist kalt und feucht, und ich kann Balou und mein Equipment während des Zeltabbaus sehr gut dort unterbringen, einen Kaffee aufbrühen, etwas Granola essen und mich dann frisch gestärkt auf den Weg machen.
Wegweiser
Die etwa 14 km lange Etappe nach Camping Les Naiades in Chatel-Chehery verläuft durch leicht hügeliges mal mehr mal weniger bewaldetes Gelände.
Kurz nach dem Start weist mir ein Schild mit der Aufschrift „hier lang“ den Weg. Es muss sich wohl um einen Hinweis für deutschsprachige TeilnehmerInnen am GTA, einem Geländeabenteuer für MountainbikerInnen, Trail-RunnerInnen, Wandernde und andere Menschen mit Outdoorbegeisterung, handeln.
Wildsichtung
Noch lässt sich die Rucksacklast einigermaßen ertragen, so dass ich in einen Trott verfalle, aus dem mich erst Balous auffälliges Verhalten holt. Er tänzelt vor mir her, knurrt leise und bellt verhalten, als plötzlich mit einigem Lärmen auf meiner rechten Seite eine Wildschweinrotte durch das Brombeergestrüpp hastet, um aus Furcht vor uns in das Dickicht des Waldes zu flüchten. Während ich die braun-grauen recht kleinen Exemplare in ihrem Auf und Ab sehe, leine ich hektisch Balou an, und wir gehen zum Glück ungeschoren und als glorreiche Sieger aus dieser Begegnung hervor.
Waldgarderobe
Der Weg geht nun hohlwegartig talwärts und weiter über asphaltierte Wirtschafts- und Waldwege, an denen immer wieder klare Eigentumsverhältnisse durch unmissverständliche Betretungverbote und Warnhinweise geregelt sind. Weiter im Wald mache ich an einer seltsamen Hütte Rast, auf deren Außenseite eine „Garderobe“ aufgestellt ist. Schnell kann ich diese auffällige Konstruktion als Aufhängevorrichtung für erlegtes Wild identifizieren. Was für ein seltsames Ritual, denke ich, das Ergebnis eines Tagesgemetzels so zu bestaunen, es mit hochprozentigen Getränken und dazu passendem Gerede zu feiern. Trotzdem nutze ich die Möglichkeit zum Rasten, freue mich aber, diesen einschüchternden Ort bald wieder verlassen zu dürfen.
Der Wald hat mich wieder. Dort wo Kiefern stehen, fällt auch einiges Licht auf den Weg, aber ansonsten bleibt mir das einengende, begrenzende, abschirmende Gefühl dicht auf den schmerzenden Fersen.
Oberhalb von Chatel-Chehery verlasse ich den GR 14 und gehe eine schmale asphaltierte Straße steil nach unten. Ich passiere das nette kleine Örtchen, gehe an der Kirche vorbei und muss dann noch wenige hundert Meter auswärts, bevor ich auf den komplett verlassenen Campingplatz komme. Ich warte eine halbe Stunde, da auf dem Aushang eine Uhrzeit angeschlagen ist, zu der auch außerhalb der Saison die Rezeption besetzt sein soll. Es kommt niemand, obwohl den herumliegenden Gegenständen nach zu urteilen hier jemand wohnen müsste.
Nach der langen Warterei rufe ich endlich die auf dem Aushang angegebene Mobilnummer an und erhalte die Erlaubnis, an einer beliebigen Stelle mein Zelt aufschlagen zu dürfen. Das tue ich auf einer kleinen durch Hecken eingefassten Wiese.
Alleinstellung
Schließlich kommt das freundliche Betreiberehepaar. Ich bezahle, dusche und esse meine Instantmahlzeit. Der anschließende Rundgang über den Platz zeigt einen insgesamt auf die Hauptsaison ausgerichteten Platz mit zahlreichen Miethütten, einem Pool, einem Imbiss mit überdachter Außenterrasse und Hinweise auf ein Animationsprogramm. Alles wirkt zusammengewürfelt, unaufgeräumt, ungepflegt. Ja, ich bin froh einen Platz gefunden zu haben, auf dem ich legal mein Zelt aufbauen kann. Aber als jemand, der gerne Urlaub auf Campingplätzen in der Natur macht, würde mich der Zustand dieses Platzes sehr stören.
Aufmunterung
Am nächsten Morgen prasselt Regen auf mein Zelt, während die starken Böen die Standfestigkeit prüfen. Ich räume im Zelt alles zusammen, ziehe mir meine Regenkombi an und bringe zuerst Balou und dann den Rest unter das Dach der jetzt zugigen Außenterrasse. Nachdem auch das Zelt abgebaut ist, brühe ich mir einen heißen Kaffee auf, an dem ich mich ein wenig aufwärme. Während wir loslaufen, lässt der Regen nach, und ich kann meine Regensachen in das Meshfach des Rucksacks drücken. Ich gehe eine in Serpentinen ansteigende Straße aufwärts und Richtung GR 14. Wir werden von einem Traktor überholt, der einen Müllcontainer transportiert. Nach einigen Minuten kommt uns der gleiche Traktor jetzt offenbar mit entleertem Müllcontainer entgegen. Ein freundlicher junger Mann hält an, öffnet die Türe und beginnt seelenruhig ein Gespräch. Kein anderes Fahrzeug stört uns dabei. Er wünscht uns viel Spaß, und kurz darauf betreten Balou und ich den Wald und den GR 14.
Trugbilder
Nach wenigen Metern blockiert eine seeartige Pfütze den Weg, in der zum Glück ein dicker bemooster Ast liegt. Nach einigem Zögern nehme ich die Einladung dieser Brücke an und kann dank meiner Stöcke ohne abzurutschen passieren. Balou läuft einfach durch das Wasser. Es ist eine Tortur. Immer wieder verliert sich der Weg in schmalen fast unkenntlichen und manchmal auch kaum passierbaren Abschnitten. Dann geht er wieder über gut ausgebaute Wirtschaftswege bis ich am Cimitiere militaire allemand d‘Apremont endgültig verlorengehe.
Das durch grünes Laub weich fallende Sonnenlicht erzeugt auf dem grasigen, mit beschaulichen Kreuzen bestandenen Gelände das Trugbild einer Naturidylle. Ich lese die Namen Heinrich, Fritz, Egon und so weiter mit bekannten deutschen Nachnamen. Ich sehe Geburts- und Sterbedaten, und ich ahne, wie viel unter diesen dunklen Bäumen gehofft, gelitten und gestorben wurde. Während ich steil bergab mehr rutsche als gehe, kann ich die Angst der Wachsoldaten förmlich spüren, die mit kältestarren Fingern, nassen Füßen und hungrigen Mägen in der bedrohlichen Kulisse des Argonnerwaldes auf ihr unvermeidliches Ende warteten. Einsam, verlassen, geopfert. Ein Wahnsinn, besungen mit dem unsäglichen Lied vom Argonnerwald.
Abwege
Meine Stimmung ist bereits am Tiefpunkt, als ich die Talsohle erreiche und registriere, wie sich der Hauptwanderweg GR 14 im sumpfigen Gelände verliert. Zunächst versuche ich, von Grasbüschel zu Grasbüschel weiterzukommen, merke aber bald, dass die Abschnitte mit Wasser und Matsch immer größer werden. Zurückzugehen ist keine Option, dem Weg zu folgen ist nicht möglich, so dass ich mich in den Wald schlage und bereits nach wenigen Metern merke, die Orientierung verloren zu haben. Ich bekomme Panik, schaue auf mein Handy, das keinen Empfang hat. Zum Glück hilft mir die Karte des Satellitengerätes. Und erst nachdem ich eine Stelle gefunden habe, an der sich der Bachlauf dank einiger Steine überqueren lässt, geht es wieder aufwärts, der Untergrund wird trockener, und ich laufe durch den Wald in die Richtung, in der sich der Weg befinden muss.
Es bleibt sumpfig, moosig, rutschig. Schließlich komme ich oberhalb von Varennes-en-Argonne auf einen gespurten Wirtschaftsweg, sehe eine Kuhwiese und kann mein Glück kaum fassen, vom Schlamm in die Zivilisaton befördert zu sein. Balou und ich machen eine Pause, bevor wir den Abstieg nach Varennes-en-Argonne angehen, wo die Tour für dieses Mal endet.