Drei Tage im Paradies

Das klingt pathetisch. Für einen Radfahrer ist es das aber nicht. Die Niederlande sind definitiv ein Fahrradfahrer-Paradies. Gehört hatte ich davon, erfahren habe ich es erst jetzt. Denn endlich konnte ich die bereits für das letzte Jahr geplante Radtour vom unteren Niederrhein nach Zeeland in den Niederlanden machen. 

Micro-Abenteuer

Der Stress dauert bis zur Abfahrt. Natürlich ist es wichtig, an alles zu denken. Handy, Powerbank, Stromkabel, Zelt, Isomatte, Schlafsack, Kocher, Hundefutter und so weiter. Und zum ersten Mal nimmt Balou an einer Tour teil. Balou ist unser kleiner Cockapoo und wird mich in Zukunft auch auf den Wanderungen begleiten. Mit zehn Monaten ist er dafür noch zu jung, aber große Teile einer Radtour gemütlich im Croozer Anhänger zu verbringen, das schafft der kleine Racker schon. Trotzdem bleibt die Aufregung bis zuletzt auf einem hohen Niveau.

Wie auf Knopfdruck ändert sich die Gefühlslage, sobald die Sitzhöcker Sattelkontakt erhalten. Jetzt zählt nur noch der Fahrtwind im Gesicht, die Äcker rechts und links der Route und die Anfang Juni üppig sprießende Natur. Auch Balou streckt seine Nase in den Wind. Vielleicht wundert er sich ebenfalls über die unbekannten Eindrücke von Häusern, Gärten, Höfen, Weiden und Wegen, die im fünfzehn-Kilometer-Radius rund um den Wohnort fast wie eine terra-incognita an uns vorbeigleiten. Der Urlaub beginnt tatsächlich vor der Haustür und das Corona Schlagwort des Micro-Abenteuers nimmt Gestalt an.

Kulturschock

Und dann sind wir an der Grenze zu den Niederlanden. Noch ein kurzer Einkauf im Grenzladen, der sich komplett auf die überwiegend deutsche Kundschaft eingestellt hat: palettenweise stapeln sich dort die pfandfreien Dosengetränke. Und das war es dann auch schon mit dem Deutschen. Die Grenze ist zwar offen und doch markiert sie einen harten Cut. Plötzlich gibt es die perfekten Radwege, liebevoll restaurierte Häuser, geschmackvolle Villen, mit Gestaltungswillen und -können angelegte Vorgärten und selbst Einfamilienhaussiedlungen überzeugen mit einer stilvollen Individualität. 

Flechtzäune mit Kunststoffbändern, Verbundsystem-gedämmte Fassaden, Kitsch und überflüssige Dekoration, Schottergärten – Fehlanzeige. Die in Deutschland grassierende optische Umweltverschmutzung findet an der Grenze ein jähes Ende. Gott sei Dank!

Wir gleiten durch Arcen. Vom vielen Gucken und Kopfdrehen werden die Nackenwirbel ganz geschmeidig. Der leichte Regen und die Gewitterstimmung passen zum üppigen Grün ringsum. Über die Maas setzen wir mit einer Fähre.

Broekhuizen, Meerlo, Oostrum, Venray, Merselo, Milheeze, Bakel sind die groben Orientierungspunkte unserer ersten Etappe mit einer Länge von 73 km. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf den niederländischen Fahrradwegen gleitet es sich perfekt. Wir begegnen freundlichen Menschen, viele sind pfiffig gekleidet, nie nachlässig. Die Gärten, Häuser, Cafés, Restaurants, selbst Wirtschaftsgebäude sind ein Statement kultivierter Lebensart. Von der nach innen gekehrten kleinbürgerlich deutschen Gemütlichkeit hin zum transparent-nonchalant niederländischen dolce vita sind es nur ein paar Kilometer.

Während wir das van Gogh Museum in Venray passieren, bemerke ich den Fehler der zu späten Abfahrt. Erst um halb elf loszufahren ist auch mit einem Pedelec keine gute Idee. Reichlich Gepäck und Anhänger machen das Fahrrad in der niedrigsten Unterstützungstufe zu einem mit Kräften zu bewegenden Gefährt. Was als sportlicher Ehrgeiz begann, wird im Laufe der Fahrt zu einer Notwendigkeit. Denn immer, wenn ich mit einer höheren Unterstützungsstufe liebäugele, sagt mir der Bordcomputer über den Reichweitenhinweis, dass ich so bereits vor dem Ziel ohne Unterstützung werde auskommen müssen. Ich beiße also trotz meines 600 Watt Akkus die Zähne zusammen.

Aldörrum

Irgendwo haben wir die Provinz Limburg verlassen und radeln inzwischen durch Brabant. Auf den letzten Kilometern schlängelt sich der schmale aber gut befahrbare Weg durch die waldige De Peel Landschaft. Es ist halb sieben, die letzten Gewitterwolken weichen einer strahlenden Abendsonne, der Boden dampft und alles sieht wie weichgezeichnet aus. 

Erschöpft aber zufrieden kommen wir auf dem zuvor gebuchten Minicamping Aldörrum an. Carl Driessen und Gerda Hendriks begrüßen uns so locker-herzlich, dass wir uns ehrlich willkommen und augenblicklich wohl fühlen. Für den knurrenden Magen gibt Carl den rettenden Hinweis auf www.thuisbezorgd.nl, die niederländische Variante von Lieferando, die ich in diesem Fall auch tatsächlich nutze. 

Pizza verspeisen, Zelt aufbauen, Hund versorgen, Reisegepäck verstauen – damit ist der Abend ausgefüllt und ich lege mich erschöpft schlafen. Trotz Müdigkeit komme ich noch nicht zur Ruhe und kann die Abendstimmen aus dem angrenzenden Naturschutzgebiet de Biezen genießen. Froschkonzert, Vogelstimmen, hin und wieder Hundegebell aus der Ferne, vermengen sich zu einer Nachtmusik, der ich mich nicht entziehen kann.

Erst am Morgen erkenne ich die ganze Schönheit der Gegend, in die sich der Minicamping Aldörrum wunderbar einfügt. Als passionierter Camper habe ich bereits viele Campingplätze erlebt. Hier stimmt alles: von den wirklich besonderen Sanitäranlagen über die Platzarchitektur bis hin zu den „fehlenden“ Dauercampern. Während ich das von Gerda und Carl auf der überdachten Terrasse angerichtete Frühstück genieße, beschließe ich, diesen Platz noch einmal aufzusuchen und für mindestens ein Wochenende zu bleiben, um einige der Orte und die Gegend kennen zu lernen.

outdooractive

Die Sonne strahlt und ich hätte Sonnencreme auftragen sollen. Aber nach einem eher regnerischen Tag ist die Euphorie so groß, dass ich solche lästigen Verrichtungen gerne ausspare. Schließlich habe ich bereits das Zelt und alle anderen Utensilien wieder auf dem Fahrrad verstaut und möchte jetzt endlich losfahren. Es ist zwar erst neun Uhr aber heute sind 40 Kilometer mehr zu bewältigen. Die Strecke bis zum Borderijcamping de Meet in der Nähe von Huijbergen beträgt laut outdooractive 111 Kilometer. 

Outdooractive, so viel möchte ich einmal dazu sagen, hat eine weitgehend sehr gute Fahrradroute vorgeschlagen. Die Strecke ist relativ direkt, größere Straßen werden meist vermieden und alle Wege sind befahrbar. Mit Komoot hatte ich vor einiger Zeit das Wander-Erlebnis, vor einem unpassierbaren Bach zu stehen, obwohl der Track ganz offensichtlich an dieser Stelle hinüber führte. Mir scheint auf outdooractive auch die Kartendarstellung detaillierter zu sein.

Wilhelminakanal

Eindhoven, Tilburg, Breda, Rosendaal – große niederländische Städte, die sich nur auf Autobahnen umfahren lassen. Dieser Gedanke kommt mir immer, wenn ich die Übersichtskarte Niederlande anschaue. Alle vier Städte liegen irgendwie auf unserem zweiten Abschnitt und doch bekommen wir von ihnen nichts mit. Bereits kurz hinter Aarle-Rixtel führt die Route an den Wilhelminakanal und bleibt ihm für viele Kilometer eng verbunden. Son en Breugel, Lieshout, Best, Oirschot bis kurz vor Haghorst folgen wir dem Kanal mal auf der linken, mal auf der rechten Uferseite. Trotz Eco-Modus habe ich mich um die 20 km/h eingependelt. Die Sonne scheint, die Bäume spenden Schatten, die Boots-Käpitäne winken uns freundlich zu, die Reifen summen und fast fliegen wir dahin. Auch als wir uns vom Kanal verabschieden, bleibt die Fahrt abwechslungsreich. Zwischen Hilvarenbeek, Alphen und Chaam ziehen sich parallel zu unserem komfortabel asphaltierten Radweg breite Sandpisten kilometerlang durch den Wald und die heideartige Landschaft. Als uns ein SUV entgegenkommt und uns mächtig Staub in die Augen wirbelt, verstehe ich, wie privilegiert das Fahrradfahren in den Niederlanden wirklich ist. Wer die flache niederländische Landschaft als eintönig empfindet, sollte unbedingt aufs Rad umsatteln. Sonst besteht die Gefahr, die knorrigen Rhododendron-Sträucher zu übersehen, die den lichten Waldrändern mit ihren violetten Blüten etwas parkartig Geheimnisvolles verleihen. Dennoch muss ich gestehen, dass auch ich nach gut 80 Kilometern in einen Trott gerate, der der Aufmerksamkeit schadet. Beinahe wäre ich durch Belgien gefahren, ohne es zu bemerken.

Nach gut 110 Kilometern bin ich froh, den Borderijcamping de Meet erreicht zu haben. Mein erster Eindruck dämpft allerdings die Freude über die Ankunft. Die landwirtschaftlichen Gebäude präsentieren sich eher wie ein mittelmäßiger Bauernhof in Deutschland. Alles wirkt ein wenig provisorisch und unaufgeräumt.

Als uns eine freundliche Dame begrüßt und sich auf sehr nette Art nach der Fahrt erkundigt, sind die ersten Ressentiments bereits verflogen und wir fühlen uns willkommen. Das Campingareal liegt auf einer langgestreckten breiten Wiese. Auf beiden Längsseiten befinden sich die großzügigen Stellplätze. Eine Walnussbaumallee spendet Schatten. Auf der Mittelachse der Wiese stehen in gewissen Abständen Picknicktische und -bänke. Wir bekommen einen geschützten Platz zwischen zwei Tinyhouses. Es gibt einen kleinen Hofladen, Winkeltje, wie die Niederländer sagen. Hier kaufe ich frische Erdbeeren. Ein großer Kühlschrank, gefüllt mit verschiedenen Käsesorten, macht mich hungrig. Aber für mich alleine sind die Stücke einfach zu groß. Zwei Flaschen Bier kaufe ich aus den privaten Beständen der Betreiberfamilie, und für das Frühstück am nächsten Tag kann ich Brootjes und Croissants bestellen.

Bredestraat und Hauptstraße sind am Abend zum Glück nicht so stark befahren. Für uns ist es der ideale Platz für eine Übernachtung auf der Durchreise. Es gibt aber auch einige Dauercamper, die hier ihre Freizeit verbringen. Zwar sehe ich die unvermeidlichen Geranientöpfe, dennoch sieht der uns gegenüberliegende Dauercamperplatz nicht wie eine verbarrikadierte Festung aus. Auch hier ist eine freundliche Dame zu Hause, die Balou mit Leckerlis verwöhnt. Es gefällt mir, dass die PKW nur zum Be- und Entladen auf den Platz dürfen, ansonsten aber auf einer Parkfläche hinter einer großen Hecke unmittelbar am Hof verschwinden.

Die dritte und letzte Etappe unseres Niederrhein – Zeeland Abenteuers beginnt kalt und mit reichlich Gegenwind. Und das bleibt knapp 90 km lang leider auch so. Ich starte noch in kurzer Hose. Im Laufe des Tages kommt eine Lange darüber, eine Daunenjacke an und sogar eine dünne Icebreaker Beanie-Mütze unter den Fahrradhelm. Unterhalb von Bergen op Zoom präsentiert sich die Strecke zusätzlich leicht hügelig. Also kämpfe ich schon wieder mit meiner Reichweitenanzeige. Später sind die einzigen Steigungen dann die zahlreichen Brücken, die uns über Landstraßen, Autobahnen, Bahngleise und Kanäle führen. Die Überfahrt des Schelde-Rijnkanal ist beeindruckend und weckt trotz der Wetterlage zaghafte maritime Gefühle. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet in dieser kargen und rauen Gegend ein großer Teil unserer sonnengereiften Tomaten ihren Ursprung haben. Gefühlte zig Quadratkilometer unter Glas bescheren ihnen wohl selbst bei kaltem Nebelwetter die nötigen Impulse zum Reifen. Hinter Krabbendijke führt der Weg unterhalb des Deichs direkt an der Osterschelde entlang. Und der Blick auf die Schelde weckt neue Kräfte. Bei Hansweert passieren wir eine Schleusenanlage und fahren dann ein gutes Stück parallel zur Westerschelde. Gegen den Wind sind sämtliche Wasservögel schneller als wir. Es ist eine Freude, ihnen bei den Flugmanövern zuzusehen. Über s‘Gravenpolder, Nisse und Nieuwdorp führt uns unser Weg schließlich mitten in das wunderschöne Middelburg. Wir gönnen uns schnelle Blicke auf Fassaden, Walcherenkanal und Binnenhafen und wähnen uns schon fast im Ziel. Aber es sind noch knapp 13 Kilometer bis Zoutelande. 

Camping Pieternella Hoeve

Der Campingplatz Pieternella Hoeve hat den großen Vorteil, dass er unmittelbar am Ortsrand von Zoutelande liegt. Nachdem das Zelt aufgebaut und das Gepäck verstaut ist, schlendern wir in das kleine Zentrum dieses netten Örtchens, das sich in den letzten Jahren gut entwickelt hat. Es meistert den Spagat zwischen Massentourismus und niederländischer Originalität recht anständig. Während wir auf der Terrasse eines Restaurants zu Abend essen, setzt sich die Sonne langsam durch und reißt Lücken in die Wolken, die uns den ganzen Tag treu begleitet haben. Die Hoffnung auf einen Schön-Wetter-Ausklang der Radtour am nächsten Tag steigt.

Camping Pieternella Hoeve ist ein überschaubarer Campingplatz, der vor allem durch seine Lage überzeugt. Auf dem Platz stehen die Zelte und Caravans im Kreis um eine Wiese. Das ist für meinen Geschmack zu eng und bietet mir zu wenig Privatsphäre. Die Sanitäranlagen sind sauber und ordentlich und auch das Rezeptionsgebäude hat niederländischen Charme.

Pudel Wohl

Am nächsten Morgen geht die Sonne strahlend auf. Der Himmel hat alle Wolken verschluckt. Durch den Ort, über die Düne, den Sand und ins Wasser. Zumindest bis zu den Knien. Balou ist aufgeregt, testet das Salzwasser, spielt mit Seetang, wird von kleinen Wellen überrascht und fühlt sich pudelwohl.

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