Moselsteig IV – Von Kesten bis Ürzig

Als Basis für die vierte Moselsteigwanderung habe ich Ürzig ausgewählt. Trotz einer Steilhang-Lage namens Ürziger-Würzgarten, an der selbst die Zunge ihren Halt verliert, kannte ich das Örtchen zuvor nicht. Eher hatte ich schon einmal etwas vom benachbarten Kröv und seinem unsäglichen Nacktarsch gehört, der in einer breit und mittelfristig angelegten Marketingkampagne dringend geliftet werden müsste, wie sich vor Ort nüchtern und bei Licht betrachtet leicht erkennen lässt. Da kommt Ürzig trotz eines klotzigen leerstehenden sechziger Jahre Schulgebäudes im Ortskern und einer sanierungsbedürftigen Gasse in Randlage deutlich ehrlicher und sympathischer daher. 

Erbes-Henn

Nicht ohne Einfluss auf mein positives Ürzig-Fazit ist das Weingut und Gästehaus Erbes-Henn, in dem ich schlafe, frühstücke, Wein probiere und zu Abend esse. Bereits bei der Internetrecherche war klar, dass die Familie Erbes-Henn zum Glück nicht im Stil des siebziger Jahre Mosel-Massen-Tourismus‘ auftritt. Das Design der Website, die Fotos vom Gut, von den Zimmern und der Familie, der Text, das Speisenangebot im Bistro bis hin zur Typographie zeigen Modernität, Klarheit und auch Experimentierfreude, die nichts mit einer altbackenen moseligen Weinseligkeit zu tun haben, die sich in vielen Betrieben dieser wunderschönen Gegend leider hartnäckig hält. Der Praxistest bei Erbes-Henn hält, was die Website verspricht. Das Frühstück mit frischen regionalen Produkten, teilweise in Bio-Qualität, der leckere Flammkuchen und die knackigen Salate im Bistro dazu die trockene Riesling Spätlese lassen ein Moselgefühl aufkommen, wie ich es seit Perl immer wieder erlebt habe und wie es sich in den nächsten Jahren hoffentlich weiter durchsetzen wird.

Spätburgunder

Mit dem Auto bis Bernkastel-Kues und dann mit dem Bus und einmaligem Umsteigen in Mülheim komme ich nach Kesten. Balou ist das Busfahren immer noch nicht geheuer, so dass ich ihn über die Schwelle trage. Aber schon nach einigen Minuten Fahrzeit tauscht er das Zittern gegen die Neugier und widmet sich den Dufthinterlassenschaften anderer Zwei- und Vierbeiner. Wie bereits bei Etappe 9 beginnt die 16,4 Kilometer lange Etappe 10 mit dem weniger schönen Zubringerweg entlang der Landstraße. Und dann geht es wie gewohnt in die Weinberge. Der Nebel trübt den Blick ein wenig ein und die asphaltierten Wirtschaftswege lenken ab von der eigentlich sehr schönen Landschaft. Ins Auge fallen die tiefblauen vollen Reben, die prall an den Weinstöcken hängen und wahrscheinlich als Spätburgunder in die Flasche kommen. So sehr sie sich im Weinberg auch in den Vordergrund drängen, fristen sie hier an der Mosel doch eher ein Dasein im Schatten des allgegenwärtigen Rieslings.

Seitenwechsel

Erst als ich so richtig ins Schwitzen komme, stelle ich fest, dass die Sonne ungetrübt am Himmel steht, um die Landschaft auf spätsommerliche 26 Grad aufzuheizen. In Mülheim wechsle ich auf die rechte Moselseite und suche einen Bäcker. Von mir darauf angesprochen, erklärt eine einheimische freundliche Dame wie selbstverständlich, dass es im Ort einen Bäcker nicht mehr gäbe, ich aber nur über die soundso Straße und dann beim Richter vorbei und noch ein Stückchen hoch zum Netto laufen müsse. Besorgt frage ich mich, ob ich bis dahin nicht verhungert bin und probiere es beim Metzger, den die nach wie vor auf den Autokunden gemünzte Optimierung zum Glück noch nicht aus dem Ortskern vertrieben hat. Zwischen Brötchenhälfte und Wurstscheibe gibt es nur Margarine. Meine Frage nach Butter wird unmissverständlich als außerhalb der Nachfrage und der Streichbarkeit abgewiesen. Wie immer will die Brotzeit auf einer geeigneten Bank möglichst mit Aussicht und ohne Verkehrslärm verzehrt werden, so dass ich meine Brötchen im Rucksack-Deckelfach noch ein wenig von der Sonne nachgaren lasse und spätestens jetzt der Unterschied zwischen Margarine und Butter ohnehin dahingeschmolzen wäre. Auch für Balou hat es ein Stück Wurst gegeben, und der Geruch macht ihn schon ganz verrückt. Obwohl ich ihm sonst keine Wurst gebe und schon gar nicht einfach nur so, lasse ich ihn halbherzig eine Sitzübung machen und anschließend das Stück verschlingen, hoffend, dass es nicht wieder auf dem gleichen Weg herauskommt.

Blendwerk

Zum Glück führt der Moselsteig jetzt häufiger durch Wald, so dass wir etwas Schatten haben und mit unseren Wasservorräten gut zurechtkommen. Von der Wilhelmshöhe mit ihren 328 Metern gibt es eine schöne Aussicht die Mosel hinauf. Mir gefällt die Abwechslung zwischen Weinbergen und Wald, und ich freue mich, dass sich der Weg kurz vor der Annakapelle doch noch zu einem Steig entwickelt. Schmale, kurvige Passagen am Hang sind auf diesem Abschnitt eher selten. Von Eintönigkeit zu reden wäre nicht gerecht, aber es fehlt ein wenig das Unvorhersehbare. Mit der Annakapelle, der Burg Landshut und dem herausgeputzten Bernkasteler Markt präsentiert sich Abschnitt 10 mit reichlich touristischen Highlights. Nach einem steilen Abstieg in den Ort, der sich von außen nach innen oder von oben nach unten auf nur wenigen Metern von vernachlässigter Hinterhof-Atmosphäre in einen historisierend opulenten Tourismus-Ort wandelt, erreiche ich den großen Parkplatz direkt an der Mosel. Da ich als Vorbereitung auf die nächste Trekkingtour meinen Trekkingrucksack mit etwa 12 Kilo trage, kommen die Müdigkeit am Abend und der nächste Tag relativ schnell.

Wetterfest

Bei wolkigem Himmel aber sehr angenehmen Temperaturen steige ich in den Bus bis Bernkastel-Kues. Ich verlasse den Ort in nördliche Richtung. Augenfällig ist auch auf dieser Seite des Städtchens der erbärmliche Zustand von Häusern, Vorgärten und allerlei Anbauten nur einige hundert Meter vom herausgeputzten Ortskern entfernt. Diese Situation zieht mich trotz des steilen Anstiegs ziemlich herunter. Meist wäre, um die Misere zu beenden, nicht mehr als ein wenig Fleiß gefragt. Schließlich gelingt es aber der aussichts-, abwechslungs- und waldreichen Strecke, mich von diesen tristen Gedanken abzulenken. Eine kleine Regenfront bietet die willkommene Gelegenheit, das Regenequipment zu testen. Besonders angenehm ist, dass mein Osprey Rucksack trotz des relativ niedrigen Gewichts wasserdicht ist. Auch Jacke und Hose erfüllen ihren Zweck. Dennoch bildet sich durch den Schweiß im Innern viel Feuchtigkeit; Atmungsaktivität ist mit schwerem Rucksack und einem steilen Anstieg immer relativ.

Brückenschlag

Die von Komoot als schwer eingestuften 18,1 km der Etappe 11 überzeugen durch einen überwiegend sehr pfadigen Weg, wunderbare Aussichten, dunkel kühle Waldabschnitte und erholsame Ruhe. Ich folge über einige Kilometer dem Panoramapfad Maria Zill, der diesen Namen zu recht trägt. Oberhalb von Zeltingen-Rachtig drängt sich die Hochmoselbrücke ins Bild. Bis zum Zielort Ürzig steigt der Pfad so oft auf und ab, dass ich die 158 Meter hohe Brücke, die auf filigranen taillierten Pfeilern ruht, von allen Seiten und von oben und unten begutachten kann. Tatsächlich strahlt sie eher etwas Künstlerisches aus und verbirgt hinter dieser Fassade gekonnt ihre schlichte Funktion als Bypass einer überschleunigten Gesellschaft. Und natürlich zerschneidet sie mit einer rücksichtslosen Selbstverständlichkeit eine Kulturlandschaft, der es ohne uns Menschen deutlich besser ginge.

Abwegig

Die bei Komoot heruntergeladene Etappe deckt sich auf den letzten drei bis vier Kilometern nicht mit der Beschilderung des Steigs. Ich folge der offiziellen Wegweisung, entferne mich dadurch etwas vom Moselhang und tauche noch einmal in einen sehr urwüchsigen Buchenwald ein. 

Nach dem Abendessen in Ürzig gerate ich auf dem Heimweg in den Sog einer schmissigen Blaskapelle. Ich trinke einen wunderbaren Riesling von Stephan Erbes und schaue mir etwas irritiert den sehr provisorisch wirkenden Ausschankwagen für das anstehende Höfefest und die mit den üblichen Kunststoffplanen bespannten Pavillons für die weinseligen Silver-Ager an, die hier fröhlich den Wein genießen. Als die Kapelle das Mosel-Lob-Lied „Oh Mosella, du hast so viel Wein“, intoniert, denke ich an das ungenutzte Potenzial und die aufdringlichen Vernachlässigungen in den Randbereichen einiger Örtchen, vor denen ich den Blick nicht verschließen konnte.

Leider gibt es für den nächsten Tag eine Unwetter- und Gewitterwarnung des Deutschen Wetterdienstes. Die Etappe von Ürzig nach Traben-Trarbach verschiebe ich um ein halbes Jahr. Ein wenig schade finde ich, dass ich die „Trophäe“ des Halb-Steigs mit Etappe 12 jetzt noch nicht mit nach Hause bringen kann.

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