Das war ein seltsames Gefühl. Ich bin mir nicht sicher, wann es mich beschlichen hat. Zuerst habe ich die Hinweise nicht wahrgenommen. An Bäumen, Zäunen, Pfosten, Wänden, Toren. Auf allem, was als Befestigungsunterlage geeignet scheint, haben sie mich schließlich angeschrieen, diese hochkant platzierten DIN A 5 Zettel: Interdit – Chasse – Affut. Wanderer nicht willkommen. Jagd. Betreten verboten. Den überwiegenden Teil der gut 120 km auf dem Hauptwanderweg GR 14 durch die Ardennen habe ich also widerrechtlich betreten. Kein Wunder, dass mir keine anderen Wanderer begegnet sind. Wahrheitsgemäß muss ich sagen, dass die Verbotszeiten bis in den Vormittag gehen und dann am späteren Nachmittag wieder beginnen, das Zeitfenster dazwischen legale Wanderzeit ist.
Waldregeln
Über die Schichten der Erinnerung, die sich je nach Dauer und Erlebnisintensität auffalten, legt sich der Gesamteindruck des stark reglementierten Waldes wie ein Schleier. So dass der Verdacht keimt, beim Ardennenwald könnte es sich um einen überdimensionierten Freizeitpark für Waffennarren und Abschusswütige handeln, statt um einen wichtigen Teil der weltweiten grünen Lunge. Meine Gedanken kreisen um diese massive „Bewaidung“, die es dem natürlich nachwachsenden Grün schwer macht aber eingezäunten Christbaum-Plantagen reichlich Raum bietet. Nein, die Jagd ist in diesem Ausmaß nicht nötig, wenn man dem Luchs, dem Wolf und vielleicht sogar dem Bären die Rückkehr erleichterte und mit der Fütterei aufhörte, damit das Refugium Wald sich selbst wieder zurück ins Gleichgewicht pendeln könnte. Wer meine laienhaften Überlegungen mit Skepsis liest, der sollte das Buch „Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben lesen. Die Erklärungen des bekannten Försters wecken mehr Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Wurzel und Wipfel als die Passion der Grünröcke vermitteln könnte.
Einblick
Zum Glück ist der Ardennenwald mehr als ein Jagd- und Christbaumrevier. Er ist vor allem ein ständiges Auf und Ab, was die in sieben Tagen zusammengekraxelten 2.500 Höhenmeter belegen. Er ist die Abwechslung zwischen Lichtblicken, Weitsichten, dunklen Tannen, lichten Birken und mächtigen Buchen, zwischen modrig feuchten und steinig trockenen Passagen, zwischen kalt fegendem Wind und sanft plätschernden Quellen.
Das beginnt bereits kurz hinter dem Bahnhof in Vielsalm. Über Liernieux gehe ich Richtung GR 14 und freue mich über Milchkühe, Jungstiere und andere Wiederkäuer, die auf saftigen Weiden zufrieden grasen und dem frühen Herbst den Anschein geben, als hätte es den Dürresommer zuvor nicht gegeben. Wären da nicht braun-blättrige Buchen und sogar Eichen, die sich über diese Illusion hinweg mahnend gen Himmel erheben. Es hat sich übrigens als richtig herausgestellt, die Strecke Richtung Süden an einem Hauptwanderweg auszurichten. Böse Überraschungen, zum Beispiel eines plötzlich versumpfenden Pfades, wie ich sie auf meiner ersten Etappe erlebt habe, bleiben mir diesmal erspart.
Ablenkung
Und so kann ich mich auf Balou und das Wandern als Haupttätigkeit konzentrieren, indem ich einfach einen Schritt vor den nächsten setze, dabei versuche, in einen Rhythmus zu kommen und gleichmäßig zu atmen. Tatsächlich sind es die Gedanken, die sich wie die Geier auf die Wanderruhe stürzen und Phasen tiefer Entspannung zu verhindern wissen. Einen Zustand von no-mind zu erreichen, wie beispielsweise Eckart Tolle ihn beschreibt, bleibt selbst beim grundsätzlich meditativen Vorgang des Wanderns eine Übung, die äußerste Konzentration erfordert und trotzdem nicht funktioniert. Aber ich bleibe optimistisch, dass mir das auf den verbleibenden 1.100 Kilometern noch gelingen wird. Immerhin kann ich eine gewisse Ablenkung jetzt nicht mehr auf einen schlecht sitzenden Rucksack schieben. Mein neuer Osprey Aether Pro 70 sitzt wie angegossen und verteilt die 19 Kilogramm Gepäck ordentlich zwischen Hüften, Rücken und Schultern. Vor allem meine Knie melden aber hohe Belastung und trotz zweiwöchigen Vorbereitens empfiehlt es sich, immer einmal eine Pause einzulegen. Wie das Nicht-Denken muss ich auch das Nicht-Laufen üben.
Von wenig geologischem Wissen getrübt, passiere ich einen Schiefersteinbruch und bin beeindruckt von dem wunderschönen Einblick in die Erdgeschichte. Kurz bevor ich in den Lärmkreis der Schnellstraße E 25 gerate, setzt leichter Regen ein. Die Zwangspause zum Anlegen des Regenoutfits verhindert, dass ich weiter vor mich hintrotte, und so kommt mir das einzige Wild dieser Sieben-Tage-Tour zu Gesicht. Ein unmittelbar neben der Autobahn friedlich grasender Rehbock. Mit gedankenschwerem Kopf erreiche ich nach den ersten 20 Kilometern zwar erschöpft aber mit nur moderat schmerzenden Gelenken und Muskeln mein Tagesziel Domain du Moulin de Malempré.
Komfort
Ich bin froh, einen Platz zu haben, an dem ich legal mein Zelt aufbauen kann und auch die Aussicht auf eine Dusche ist Luxus. Ehrlicherweise muss ich aber sagen, dass dieser recht ordentliche und aufgeräumte Platz doch mehr auf Reisemobilisten und Dauergäste in Chalets und Mobilheimen ausgerichtet ist. Und auf der Zeltwiese am äußersten Ende des Platzes fühle ich mich aus dem Mobilheim-Areal als unpassend verbannt, was ja auch zutrifft. Leider ist das nasse Gras hier recht hoch und es gibt nichts, auf das ich mein Equipment zum Lüften und Trocken legen könnte. Kein Baumstumpf, kein größerer Stein, keine schlichte Bank. Dieser Mangel macht sich beim verregneten Zeltabbau am Morgen besonders bemerkbar. Die Duschen sind in Ordnung, der kleine Laden neben der Rezeption hat für den Notfall ein paar Dinge im Angebot und die Toilette ist nutzbar, obwohl im Sitzen die Knie die Tür berühren. In den wachen Nachtphasen ist die nahe Schnellstraße immer zu hören. Für meinen Geschmack ein durchschnittlicher Campingplatz, der trotz seiner Lage am GR 14 offenbar nicht damit rechnet, von Wanderern angelaufen zu werden.
Balou während des Duschens allein beim Zelt zu lassen, daran muss ich mich mehr gewöhnen als der kleine Bär, der sich am Zelt einrichtet, manchmal aufmerksam wartend, in anderen Fällen ruhig schlafend darauf vertraut, dass ich zurückkomme und es schon gemeinsam weitergehen wird.
Ich kann mich nicht erinnern, wann, wie oft und bei welchen Gelegenheiten ich die Floskel vom Verlassen der Komfortzone in der Vergangenheit gehört habe. Es muss sehr oft und wahrscheinlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit gewesen sein. Beim Wandern befindet sich die Komfortzone eindeutig während des Schlafs im warm-weichen Schlafsack. Wer das Verlassen der Komfortzone aus dem theoretischen Coaching-Kontext in die Praxis umsetzen möchte, dem empfehle ich, im nass-kalten Herbst in einem kleinen Zelt im Schlafsack zu übernachten, den man morgens nach einer durchwälzten Nacht mit steif-schmerzenden Gliedern verlassen muss. Dem Zelt entkommt man morgens nie, ohne einen Guss kalter Tau- oder Regentropfen in den Nacken zu bekommen. Und anschließend gilt es, mit Kälte-tauben Fingern mühsam das Equipment im Rucksack zu verstauen, das Zelt abzubauen, einzurollen und dank der nassen Ausrüstung mit zwei bis drei Kilogramm mehr auf dem Rücken gut gelaunt in den Tag zu starten. Das Warmlaufen gelingt schneller als befürchtet und wie immer verbinden sich Tau, Regen und Schweiß zu einem rückenwarmen Dampfbad. Obwohl es nur knapp 16 Kilometer bis kurz vor Dochamps sind, machen sich das angewässerte Gewicht und der zweite Tag bemerkbar.
Waldtönig
Für einen Niederrheiner sind Landschaft und Wald alte Bekannte. Aber eine Trekking-Tour durch die Ardennen hebt die Walderfahrung auf ein neues Level. Stundenlang durch den Wald zu laufen gelingt am Niederrhein nur, wenn man sich irgendwie im Kreis bewegt. In den Ardennen tauche ich nach knapper Zubringerstrecke am Morgen in Wald ein, aus dem ich erst kurz vor dem Ziel am späten Nachmittag wieder herauskomme. Natürlich ist Wald schön, die Luft ist spürbar rein, das Licht ist gedimmt und die Geräusche sind gedämpft. Und doch habe ich trotz wechselnder Wegformen, markanten Höhenunterschieden, unterschiedlicher Vegetation und verschiedenster Grünschattierungen eine beengende Eintönigkeit empfunden.
Tallage
Der letzte Kilometer vor einem Campingplatz ist immer ein Abstieg. Denn alle sechs Campingplätze liegen an einem Fluss. Was auf den ersten Blick erholsam klingt, hat aber zwei Haken: erstens geht es vor dem finalen Abstieg meist umso länger bergauf und zweitens beginnt der nächste Tag garantiert mit einem kräftezehrenden besonders steilen Aufstieg.
So liegt Petit Suisse nach einem wechselhaft kühlen Tag besonnt im Tal. Die Rezeption ist offen, und der freundliche junge Mann wünscht englische Konversation. Damit habe ich in der Wallonie nicht gerechnet, und so entgeht mir eine Praxiseinheit französisch. Auf dem terrassierten Gelände kann ich mir einen beliebigen Platz aussuchen und für den nächsten Morgen Croissant und Brötchen bestellen. Ich suche mir eine sonnige Stelle in der Nähe der Sanitäranlage, lege meine Utensilien zum Trocknen auf eine Hecke, koche mir mein Travellunch-Menü und mache mit Balou einen Rundgang über den Platz. Im Prinzip ist alles ganz in Ordnung, aber in den Randbereichen schleicht sich doch Vernachlässigung ein. Ein nicht gut abgetrennter Müllbereich, ein kaputter Zaun am Tennisplatz, eine übergroße leicht ramponierte Monsterfigur am Schwimmbecken, eine leise wummernde Pumpe verhindern, dass ich mich hier wohlfühle.
Hochwertig
Die Sonne kommt für einen Aufbruch mit getrocknetem Zelt und Schlafsack leider zu spät über den Berg, obwohl ich die Abmarsch-Uhrzeit immer weiter nach hinten verschiebe. Von einem netten jungen Camper-Paar werde ich zum Frühstück eingeladen, habe aber bereits meinen Instant-Kaffee und mein selbst gemachtes Müsli verzehrt, so dass ich mich lieber weiter mit dem Abtrocknen der nassen Zeltplane beschäftige. Trotz aller Mühe bleibt viel Feuchtigkeit am Zelt haften und ich ziehe mit klammer Ausrüstung aber gut gelaunt Richtung La Roche en Ardenne. Die Strecke ist waldreich aber führt auch immer wieder aus dem grünen Dickicht heraus. Ich freue mich über liebevoll sanierte Häuser, die mit Naturstein, Schiefer und Holz hochwertig, natürlich und zur Gegend passend hergerichtet sind. Wenn zusätzlich die Gärten mit Haus und Umgebung harmonieren und ein Blickfenster auf eine wunderschöne Ardennenlandschaft sind, kommt nicht etwa Neid auf, sondern Freude darüber, dass ein solches Objekt offenbar in guten Händen ist.
Nutznießer
So versunken in die Betrachtung stilvoller Architektur bringen mich jäh ein Malinoi und ein langhaariger belgischer Schäferhund zurück zu den Beschwernissen des Wanderns. Bellend und knurrend kommen die beiden auf uns zu. Da ich sie nicht einschätzen kann, bleiben wir stehen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie von einer recht unbedarft wirkenden jungen Frau in das Bauernhaus hereingerufen werden. Mit einem hervorgepressten merci ziehe ich weiter und tauche kurz darauf wieder in den Wald. Und hier begegne ich unverhofft der EU. Ein aufwendig bedachtes Bankarrangement steht an einer wirklich einsamen Weggabelung. Ich wundere mich, da es bisher erst die zweite künstliche Sitzmöglichkeit außerhalb von Parkplätzen, Hauptverkehrsstraßen und Ortsdurchfahrten ist. Ich wundere mich noch mehr, als ich ein Hinweisschild auf der Bank entdecke, dass die Urheberschaft an die EU verweist. InterReg Programm. Dankbar denke ich an die Mitarbeiterinnen der örtlichen oder regionalen Tourismusagentur, die sich in den Bürokratie-Wust einer EU-Förderung vorgewagt und für den GR 14 diesen guten Ort geschaffen haben. Insgesamt bin ich auf der gut 120 km langen Wanderstrecke drei Sitzmöglichkeiten begegnet, die nicht in Reichweite von Autos lagen.
Platzwahl
Es geht weiter aufwärts und abwärts, mal mehr mal weniger steil, mal durch Laub- dann durch Nadelwald und es ist immer schön und auch schön einsam. Kurz vor La Roche en Ardenne zweigt der GR 14 von der kleinen asphaltierten Straße abrupt nach rechts oben ab, was ich erst merke, als meine Garminuhr eine Streckenabweichung kritisiert. Es geht tatsächlich geradewegs steil die Böschung hoch, der Pfad ist kaum zu erkennen, aber es ist der offizielle Weg. Dank meiner Wanderstöcke kann ich mich sozusagen auf allen Vieren hochquälen, aber ich freue mich trotzdem über diese Abwechslung. Fast verliert sich der Pfad danach in einer Rodungsfläche zwischen gefrästen Brombeeren und Baumstümpfen und eingeebnetem Farn. Und dann tauchen die „Zinnen“ von La Roche en Ardenne auf. Das Städtchen wirkt ganz nett, aber ich fühle mich zu erschöpft und schmutzig, um Halt zu machen und gehe das letzte Stück bis zum Tagesziel Camping Du Vieux Moulin durch. Ein Restaurant, ein Hotel und ein Wohngebäude ragen aus dem Fuß des Hangs heraus, und hinter einer Schranke schließt sich ein durch Hecken parzelliertes komplett leeres Campinggelände an. Auf mein Läuten hin tut sich nichts. Nur ein Beagle bellt ohne Unterlass auf einem kleinen Balkon an der dritten Etage. Schließlich rufe ich die auf einem Aushang angegebene Telefonnummer an, und so komme ich trotz meines sehr schlechten Französisch mit dem Campingplatzbetreiber in Kontakt. Wegen des nassen Zeltes frage ich ihn nach der Möglichkeit, in dem Gartenhäuschen am rechten Bachufer zu übernachten. Er schließt mir auf, und als ich auf dem Boden den Schlamm der letzten Flut vorfinde, erkennt er an meinem Gesichtsausdruck, dass ich dann doch wohl lieber im Zelt schlafe.
Frostig
Wieder einmal baue ich auf, und in der Sonne sind Zelt, Schlafsack und Isomatte bald trocken. Das Travellunch-Menü Nummer drei zwinge ich mir trotz des recht guten Geschmacks widerwillig hinein und hinunter. Der Abend kommt schnell und ich freue mich über meinen wärmenden Schlafsack. Wie immer kostet es mich große Überwindung, am nächsten Morgen die Wärme des Schlafsacks zu verlassen. Der ist wieder einmal von außen sehr feucht und auch das Innenzelt ist nasser als üblich. Eine klare kalte Nacht hat für reichlich Kondenswasser gesorgt. Erst nachdem ich Balou wie jeden Morgen mit Streicheleinheiten zufriedengestellt habe, kann ich den Reißverschluss nach außen öffnen. Auf der roten Zeltplane sind weiße Strukturen. Dank des ersten Frostes mache ich eine neue Trekking-Erfahrung. Wie immer fange ich an zu packen und auch diesmal stelle ich fest, dass sich ein bewaldeter Hügel zwischen die aufgehende Sonne und meinen Zeltplatz geschoben hat. Warten macht also keinen Sinn und das Abtrocknen des Zeltes stelle ich ein, als sich meine Finger vor Kälte der Steuerung entziehen. Ich schnalle das Zelt außen an den Rucksack und spüre beim wärmenden Anstieg, wie Wasser auf meine rechte Wade tropft. Ich laufe weiter und frage mich, um wieviel Gramm mein Gepäck mit jedem Tropfen leichter wird. Bis zum Tagesziel sind es 22 Kilometer.
Ausstieg
Der Weg ist abwechslungsreich, ich genieße große Abschnitte des Waldbades sehr. Als mich mitten im Wald eine plötzliche Übelkeit überkommt, checke ich bei Komoot nach einem Ausstieg zum nächsten Dorf, um dort etwas Essbares zu kaufen. Tatsächlich gibt es einen Weg Richtung Erneuville. Ich beschließe, die Route zu verlassen und mein Glück dort zu versuchen. Anscheinend laufe ich offensichtlich suchend durch die Ansammlung weniger Häuser, die sich rechts und links einer Kirche aufreihen. Denn ich werde von einem Erneuviller Herrn gefragt, ob ich den richtigen Weg suche. Nein, eine Boulangerie, erwidere ich. Er bedauert, dass es im Ort keine gibt. Ich erfahre, dass er ebenfalls überzeugter Wanderer ist. Schließlich geht er zum Haus, spricht mit seiner Frau und wenige Augenblicke später habe ich drei frische Scheiben Brot und drei pflückfrische Äpfel in der Hand. Einen Apfel verspeise ich sofort, die Kräfte kehren zurück und ich kürze die Strecke nicht so stark ab, wie zwischenzeitlich beschlossen. Das freundliche Ehepaar betreibt in Erneuville das Ferienhaus au-portager.be. Auf dem Rest des Tagesabschnitts freue ich mich über diese schöne Begegnung.
Stadtmusikanten
Auch der Campingplatz Pont de Berguème liegt in einem Tal an einem Bach, und ich frage nach einem Platz, der möglichst früh von der Sonne beschienen wird. Er wird mir zugewiesen, zeigt sich am nächsten Morgen aber leider gut beschattet. Offenbar habe ich mich missverständlich ausgedrückt. Und wieder gibt es diese kalte weiße Schicht auf der Plane. Obwohl alles trieft, bringt eine Nacht mit ausreichend Schlaf neue Energie und Kraft für den Abbau, das Verstauen und die nächste Strecke. Mitten im Ort reklamiert ein Hahn die Straße für sich und räumt nur zögerlich und aufgeregt gackernd sein Terrain. Das benachbarte Jack-Russel Rudel, angeführt von einem mutigen Australien Shepherd, nimmt die Anschlussverfolgung auf. Nachdem ich mich langsam weiter wandernd der Horde mit meinen Wanderstöcken erfolgreich erwehrt habe, wähne ich mich im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, allerdings auf der falschen Seite. Nein, ich habe nichts gestohlen und führe auch nichts Böses im Schilde und komme fortan auch unbehelligt weiter.
Stillgelegt
Die Strecke ist abwechslungsreich und wird regelrecht zum Highlight auf dem Abschnitt Voie du Tram, einer ehemaligen Bahnstrecke. Ein richtig schöner Wandertag, der nach einem letzten steilen Anstieg mit dem Camping Tonny belohnt wird. Ein attraktiver Natur-Platz mit nur einem Dauercamper, der hier anscheinend Wohnrecht genießt. Das macht den Platz sehr offen und vermittelt ein gutes Gefühl von Freiheit. Das Sanitärgebäude ist modern und gekonnt in die Natur integriert, und im urigen Restaurant verbreitet der Kaminofen wohlige Wärme. Ich genieße das Abendessen, den Blick aus dem Fenster und realisiere, dass ich meine Strecke wohl tatsächlich zu Ende bringen werde. Auf einer Wiese schlägt eine Gruppe Motorradreisender ihre Zelte auf, und später kommen noch drei Deutsche mit outdoormäßig hergerichteten Geländewagen auf den Platz. Bei Lagerfeuer, Wasserpfeife und wahrscheinlich einigen Bieren fühlen sie sich allein und ungestört, so dass ich in meinem Zelt der Unterhaltung mühelos folgen kann. Nachdem ich den Dreien mitten in der Nacht erklärt habe, dass Zeltwände nicht wirklich Schall isolieren, verbringe ich eine ruhige Rest-Nacht.
Aufgeregt
Nach einem starken schwarzen Kaffee und einem Croissant breche ich bei Nieselregen auf und tauche nach wenigen Metern in den Wald ein, den ich einen ganzen Tag und 20 lange Kilometer durchstreife. Statt auf Rotkäppchen oder den Wolf stoße ich mitten im Wald auf einen Griesgram. Zum Glück hatte ich Balou an die Leine genommen, als ich von weitem etwas Auffälliges durch die Bäume schimmern sah. Quer über den Weg steht der für Waidmänner obligatorische Toyota Hillux. Am Steuer sitzt mit knittrigem beschirmmütztem Gesicht und schlechter Haltung der Jäger. Mit einer gebieterischen Fingerbewegung zitiert er mich heran, so dass ich das Gefühl habe, nicht ungeschoren aus dieser Situation herauszukommen. Er fragt, ob ich französisch spreche, ich sage: ein bisschen. Die Mimik wird freundlicher, als er versteht, dass ich ein ordentlicher Weitwanderer auf dem GR 14 und nicht auf der Jagd nach seinem Wild bin. Im Prinzip war diese kleine Aufregung eine schöne Abwechslung in der gleichmäßigen Eintönigkeit des Waldes.
Überrascht
Am Ende dieses Waldtages erreiche ich mein letztes Nachtquartier den Europacamping St. Hubert. Ein nettes Rezeptionsgebäude hebt sich von der Dauercamper-Romantik des Platzes ab. Ich bekomme eine Grasfläche zwischen Parkplatz und Spielplatz zugewiesen. Meine letzte Nacht verspricht unterhaltsam zu werden und ich rede mir das als Teil des Abenteuers schön. Dazu bin ich wahrscheinlich deshalb gerne bereit, weil das Personal freundlich, interessiert, hilfsbereit und schnell ist. Trotz des für mich unpassenden Rahmens fühle ich mich willkommen. Das wird am Abend noch durch meine Restauranterfahrung getoppt. Erstens ist das Essen im Restaurant von überraschend guter Qualität und zweitens habe ich nur deshalb einen Tisch bekommen, weil die Rezeptionistin bereits bei meiner Ankunft für mich reserviert hatte. Dabei hatte ich nur erwähnt, dass ich hungrig bin.
Gefahr
Tag sieben beginnt mit regenschwerem Equipment und mit einer kleinen Nationalstraßen-Etappe bis St. Hubert. In einer Boulangerie kaufe ich ein Croissant, ein Pain au raisin und einen café à emporter. Dann geht es steil ortsauswärts und anschließend eigentlich hinein in den Wald. Aber hier versperrt ein Gatter den Weg mit der bekannten Beschilderung: Interdit- Chasse – Affut.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, ich bin zu früh. Ich lege eine halbe Stunde Zwangsrast ein, in der ich versuche, das Regenwasser aus meinem Zelt zu wringen. Etwas zu früh öffne ich das Gatter und tauche wieder im Ardennenwald unter. Am Monument du Roi Albert will ich eine kleine asphaltierte Straße queren, als ich einen Ruf höre. Ein mit gelber Regenjacke bekleideter älterer Herr winkt mich zu sich heran und gibt mir zu verstehen, dass ich dabei bin, etwas Unrechtes zu tun, denn der Wald sei schließlich gesperrt. Ich verweise auf die Sperrzeiten und erkläre, dass ich keine andere Wahl habe. Als er schließlich versteht, dass ich den GR 14 heute noch bis Grupont gehen muss, nötigt ihm das Respekt ab und er entlässt mich, nicht ohne auf die aus seiner Sicht im Wald lauernden Gefahren hinzuweisen. Ich sage Wildschweine, er sagt oui, und nimmt dann die beiden Zeigefinger rechts und links an die Schläfe, krümmt sie, wiegt sich dabei hin und her und skandiert les cerfs, les cerfs, le coeur. Schließlich begreife ich: er meint, wenn ich Pech habe, stoßen mir die brünstigen Hirsche ihr Geweih direkt ins Herz. Er wünscht mir noch viel Glück und ich ziehe weiter – deutlich unentspannter als vorher.
Erstaunlicherweise geht das Wandern plötzlich viel schneller. Und als ich dann tatsächlich ein Geräusch höre, in der Tonlage zwischen dem Trompeten eines Elefanten und dem Schreien einer kalbenden Kuh, bleibt mir kurz das Herz stehen. Ein röhrender Hirsch markiert sein Revier und beeindruckt seine Hirschkühe und Balou und mich. Beim Weitergehen überlege ich, wie weit entfernt dieses sicherlich gewalttätige Exemplar wohl ist und halte nach Bäumen Ausschau, die stark genug sind, mir Deckung zu bieten. Nach einer guten Wegstrecke und bei abflachendem Puls höre ich in unmittelbarer Nähe ein Geräusch, wie von einem angaloppierenden Pferd. Dank des älteren Herrn ist es jetzt völlig vorbei mit der Contenance und ich bin heilfroh, etwas später auf Sonntagsausflügler zu treffen, die mir fröhlich entspannt entgegenkommen. Der alte Herr hat mich mächtig beeindruckt. Dank dieses Beschleunigers erreiche ich den Bahnhof in Grupont viel früher als geplant. Hier treffe ich auf einen Wanderer aus Brüssel, der speziell wegen der Hirschbrunft in den Ardennen war und mitten im Wald übernachtet hat. Nein, fürchten müsse man sich vor den Hirschen nicht.
2 Gedanken zu „Illegal in den Ardennen – Route du soleil II“
Ein schöner Bericht!
Ich bin noch auf der Suche nach einer kleinen Wanderung zum Jahresausklang oder im nächsten Frühjahr und werde die Seite auf jeden Fall mal abspeichern.
Danke!